Reto Casparis sass gerade auf der Terrasse und gönnte sich ein Klosterbier. Dieser Dienstag war wieder mal elend langweilig gewesen. Papierkram. «Was für ein lästiges Beamtentum, dem ich da angehöre», dachte er. Als ob es nicht genügend Krawattenträger und Tüpflischiesser gäbe, die mit solchem administrativen Zeug von 8 bis 17 Uhr gutes Geld verdienten. Die Sonne blinzelte für heute ein letztes Mal hinter den Hügeln hervor und hüllte die Gegend in zartes Licht. Versöhnlich. Er zündete sich gerade eine Zigarette an, als sein Handy klingelte. Keine zehn Minuten später startete Kommissar Casparis seine Giulia, bei der schon wieder die Tankanzeige rot leuchtete. Nun, bis nach Weinfelden würde es reichen. Und dann wohl auch noch zur nächsten Tankstelle. Der Alfa Romeo liess ihn nämlich auch noch 30 Kilometer nach der Null-Anzeige nicht im Stich.

Reto parkierte und wurde vom wild fuchtelnden Chef Max Scheiwiler begrüsst. «Heieiei. Eine Schande sowas. Diese hübsche Frau wurde von einem Hund ausgebuddelt, der eigentlich nach Trüffeln schnüffelte. Frau Sommerwiler startete ihre Tour heute Morgen in aller Herrgottsfrüh und staunte nicht schlecht, als ihr Lagotta anstelle von edlem Pilz mit einer Mollerus-Tasche daherkam. Dumm gange!» Ja, genau. Das war es. Für beide.

«...Diese hübsche Frau wurde von einem Hund ausgebuddelt, der eigentlich nach Trüffeln schnüffelte...»

Die Frau hatte langes braunes Haar. Sie lag auf der Seite und sah auch tot noch ziemlich gut aus. Klar, dass sich der aalglatte Scheiwiler einen Blick auf die langen Beine der Toten nicht verkneifen konnte. Auch Schorsch Brüniger vom kriminaltechnischen Dienst war bereits vor Ort und philosophierte mit dem Neuling der Abteilung über die bombastische Qualität der Bilder seiner neuen Digitalkamera. Casparis sah sich um. Wenn er sich nicht irrte, befand sich in unmittelbarer Nähe das Schloss Weinfelden. Wie absurd. Im Wald des millionenschweren August von Finck junior lag eine tote Frau. Dieser Dienstag schien doch noch spannend zu werden.

Reto Casparis entfernte sich von der Toten und machte sich auf den Weg zum Schloss. Klar, es war noch etwas früh. Vor dem Eingang band eine Frau einen Abfallsack zusammen. «Grüezi, mein Name ist Casparis, ich bin Polizist und habe ein paar Fragen», stellte Reto sich vor. Die Angestellte – Anna Mellorca – war sehr gesprächig. Sie erzählte von diesem und jenem und meinte dann, sie sei halt ganz verschwitzt, weil diese mehrbesseren Leute letzten Freitag endlos gefeiert hätten und sie heute das Nachsehen hätte. «Bestimmt 100 Gäste waren hier und haben eine Riesenschweinerei hinterlassen», sagte sie. «Vom Turm bis in den Weinkeller. Eine Riesenschweinerei.» Casparis verlangte eine Liste aller Gäste. Auch die bekam er ohne Schwierigkeiten. Er verabschiedete sich. Er hatte zu tun.

Schorsch Brüniger vom kriminaltechnischen Dienst hatte die Tote bereits identifiziert. «Jolina Leutenegger, wohnhaft in Märstetten. Sie ist Coiffeuse und alles andere als wohlhabend. Was sie an dieser Party im Schloss zu suchen hatte, das nimmt mich mal wunder», meinte Schorsch. Neben einem knallroten Lippenstift und einem zweiten Paar Strümpfe mit Streifen hatte er auch noch ein Adressbuch gefunden. Casparis blätterte darin und blieb bei einer Doppelseite unter «BFF» hängen. Zehn Namen von Frauen. BFF. Best Friends Forever. Die hellgelbe Mollerus-Tasche schien auf den ersten Blick leer, doch versteckt in einem kleinen Seitenfach fand Reto das Handy von Jolina. Für den Moment hatte er genug gesehen und genug getan. Er machte sich auf den Heimweg und fand gerade noch rechtzeitig eine Tankstelle für seine Giulia.

«...bei August von Finck wurde Schmuck gestohlen. Und zwar unersetzlicher Schmuck...»

Eine Nacht später

Es kam selten vor, dass Casparis motiviert aus dem Bett kroch. Aber heute hatte er einiges vor – und das würde spannend werden. Er kam purlimunter im Büro an, als Max Schweiwiler ihn sofort zu sich zitierte: «Du wirst es nicht glauben, Reto. Aber bei August von Finck wurde Schmuck gestohlen. Und zwar unersetzlicher Schmuck. Finck gibt an, vor Jahren in seinem Schloss Schmuck aus dem 15. Jahrhundert gefunden zu haben. Damals gehörte dieses Schloss Hans Dietrich von Gemmingen. Es scheint so, als ob dieser Dietrich von Gemmingen irgendwie an einen Schatz der osmanischen Piraten unter Sinan Pascha und Turgut Reis gekommen ist und diesen hier im Schloss versteckt hat.»

Dass reiche Menschen immer noch reicher werden, und das auch noch, ohne dafür irgendeinen Finger zu krümmen! Das schluckt ein Casparis auch nicht mit zwei der drei Klosterbiere hinunter. Wie auch immer. Brüniger kam ins Büro. Er hatte das Handy gehackt. «Da ist nichts Spannendes drauf auf den ersten Blick. Ein Haufen Herzen und Kussmünder auf WhatsApp und 101 ungelesene Nachrichten auf Snapchat. Ansonsten nur noch Ferienfotos vom letzten Herbst in Tunesien. Aber ich hiesse nicht Brüniger, wenn ich schnell aufgegeben hätte. Letzten Freitag um drei Uhr in der Nacht, hat Jolina ein filigranes Goldarmband fotografiert. Das Bild lag im Ordner «Gelöschte Objekte». Was denkst du, Reto: Gehört dieses Armband zu den gestohlenen Schmuckstücken?»

...Brüniger kam ins Büro. Er hatte das Handy gehackt...

Auch die BFFs hatte Brüniger bereits durchgeackert. Ein richtiger Bünzli eben. Aber für einmal fand Reto das ganz okay. Die Freundinnen waren zur Hälfte irgendwo in der ganzen Welt verstreut zu Hause. Nur fünf von ihnen lebten in der Schweiz. Genauer: in der Ostschweiz. Schorsch hatte sie allesamt angerufen und alle hatten angegeben, mit Jolina in den letzten zehn Tagen keinen Kontakt gehabt zu haben.

Das glaubte Casparis so wenig, wie wenn ihm jemand erzählen würde, die Polizei werde demnächst abgeschafft. BFFs melden sich täglich! Ein ganzer Haufen Fragen bevölkerten Casparis’ Hirn. Konnte es sein, dass Jolina den Schmuck von Finck gestohlen hatte? Wenn ja, für wen hat sie dann das Armband fotografiert? Und wieso lag sie tot im Wald? Mit wem hatte sie Kontakt gehabt und vor allem, hatte sie – leicht oder stark beschwipst – das Foto jemandem geschickt, um damit Eindruck zu schinden?

Krimi-Quiz

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